11

 

Auch jetzt konnten sie noch nicht mit dem Graben anfangen. Zunächst mußte eine Gesellschaftsform geschaffen werden, die über eine Judikative, eine Legislative und eine Exekutive verfügte. Man mußte eine Armee aufbauen. Desgleichen war es unerläßlich, das Staatsgebiet der neuen Gesellschaft kenntlich zu machen. Clemens und Blutaxt stritten eine Weile herum, ehe sie sich darauf einigten, daß ein Gebiet, das sich über drei Meilen erstreckte, für ihre Pläne genügte. Dort wurde eine Grenzlinie gezogen, die spanischen Reitern nicht unähnlich war: Ein zwanzig Fuß breiter Streifen aus angespitzten Bambusstäben, die man kurzerhand in den Boden rammte und der am Fuß der Berge begann und am Flußufer endete. Hütten wurden an der Grenze errichtet und mit Kriegern und Frauen bevölkert, die sie halten sollten.

Als diese Arbeit beendet war, legte das Drachenschiff ab und fuhr flußaufwärts in jenes Gebiet, in dem das Feuersteinlager sein sollte, wenn man den Ausführungen des geheimnisvollen Fremden glauben konnte. Blutaxt blieb mit fünfzehn seiner Männer zurück und ließ das Schiff von einem seiner Stellvertreter, einem Mann namens Snorri Ragnarsson, kommandieren. Er sollte die im Feuersteingebiet lebenden Menschen dazu überreden, den Wikingern etwas von ihrem Reichtum abzutreten. Dafür sollten sie einen Anteil an dem zu erwartenden Eisen erhalten, sobald man es dem Boden entrissen hatte. Sollten die Leute sich weigern, auf seinen Vorschlag einzugehen, würde ihm nur noch die Drohung bleiben. Deswegen hatte Blutaxt auch darauf bestanden, daß Joe Miller an der Expedition teilnahm. Er spekulierte darauf, daß Joes mächtige Gestalt und seine grotesken Züge den Leuten einen gehörigen Schreck einjagen würden.

Obwohl Sam, was diesen Punkt anging, mit Blutaxt einer Meinung war, gefiel es ihm gar nicht, von dem Titanthropen getrennt zu werden. Ebenso wenig wollte er an der Reise teilnehmen, weil er nicht sicher war, was Blutaxt während seiner Abwesenheit alles anstellen würde. Der Wikingerkönig war jähzornig und arrogant. Wenn er irgend jemanden bis aufs Blut reizte, war es nicht unwahrscheinlich, daß eine neue Revolution ihn und seine paar Männer in den Fluß fegte.

Sam paffte eine Zigarre und ging nervös vor seiner Hütte auf und ab. Natürlich befand sich das Eisen dort, wo sie es vermuteten; möglicherweise sogar viel mehr, als er benötigte, um sich seinen großen Traum zu erfüllen – aber war es nicht schrecklich, wie viele Vorbereitungen man zu treffen hatte, nur um an es heranzukommen? Und jeder Schritt, den er zu tun beabsichtigte, war ihm verwehrt, weil er gleich mehrere Dutzend weitere Probleme aufwarf. Sam war so frustriert, daß er drauf und dran war, seine Zigarre durchzubeißen. Die Leute, die auf dem Feuerstein herumsaßen, mußten einfach durch eine Gestalt wie Joe daran erinnert werden, daß es Dinge gab, gegen die man sich besser nicht zur Wehr setzte. Wenn jemand sie zur Kooperation überreden konnte, war das Joe. Aber wenn der Titanthrop unterwegs war, konnte Blutaxt die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen und Sam umbringen. Natürlich konnte er das nicht öffentlich tun, weil er Joe fürchtete, aber es stand ihm natürlich frei, einen Unfall zu arrangieren.

Sam schwitzte und fluchte. Falls ich sterben sollte, werde ich irgendwo wieder aufwachen, und das könnte so weit von hier entfernt sein, daß ich tausend Jahre brauche, um mit einem Kanu wieder hierher zu gelangen, sagte er sich. Und in der Zwischenzeit werden andere meine Mine ausbeuten und mein Schiff bauen! Es ist mein Schiff, meins! Nicht ihres!

Lothar von Richthofen rannte plötzlich auf ihn zu. »Ich habe zwei von den Leuten gefunden, nach denen du suchst! Aber einer da von ist kein Mann! Stell dir das vor: Ein weiblicher Ingenieur!«

Der Mann, John Wesley O’Brien, stammte aus dem mittleren zwanzigsten Jahrhundert und war Metallurge. Die Frau war ein Mischling, halb Mongolin, zur anderen Hälfte russisch, und hatte die meiste Zeit ihres Lebens in kleinen Minenstädten Sibiriens zugebracht.

Sam begrüßte sie mit Handschlag und erzählte ihnen kurz, welche Arbeit im Moment auf sie zukam, und welche möglicherweise später.

O’Brien sagte: »Wenn wir irgendwo Bauxit finden, müßte es schon möglich sein, ein Schiff, wie es Ihnen vorschwebt, auf Kiel zu legen.«

Er war Feuer und Flamme, wie wohl jeder Mensch, der seinen irdischen Beruf weit hinter sich wähnt und nie auf den Gedanken gekommen wäre, seine Fähigkeiten noch einmal einsetzen zu können. Und es gab unzählige Leute, die ihm auf diese Weise glichen, die jede Gelegenheit ergriffen hätten, ihren alten Job wieder auszufüllen, und sei es auch nur deswegen, um die Zeit totzuschlagen. Da waren Ärzte, die allenfalls mal einen Bruch schienten; Drucker, die weder über Typen noch über Papier verfügten; Postboten, für die es keine Botschaften mehr zu übermitteln gab; Schmiede, die sich nach Pferden sehnten, die sie beschlagen konnten; Bauern ohne Land, das sie pflügen konnten; Hausfrauen, die keine Kinder hatten, die nicht zu kochen brauchten und deren Hausarbeit in fünfzehn Minuten zu erledigen war; Vertreter ohne Auslieferungslager; Priester, denen die Schäfchen davongelaufen waren, weil die Existenz dieser Welt ihre Prophezeiungen Lügen strafte; Schwarzbrenner, die nun, da die Gräle alles lieferten, keinen Fusel mehr brannten; Knopfdrücker ohne Druckknöpfe; Zuhälter und Huren, deren Existenz durch ein Heer erfolgreicher Amateure vernichtet worden war; Mechaniker ohne Autos, die sie reparieren konnten; Werbefritzen, denen man die Möglichkeit entzogen hatte, die Gehirne der Menschen mit ihrem schwachsinnigen Gefasel zu verdrehen; Dachdecker, die sich mit Bambus und Gras begnügen mußten, wenn sie zur Arbeit schritten; Cowboys ohne Pferde und Rinder; Maler ohne Farbe und Leinwand; pianolose Pianisten, eisenlose Eisenbahnarbeiter und Börsenjobber ohne Auftraggeber.

»Allerdings«, fuhr O’Brien fort, »bestehen Sie darauf, ein Dampfschiff zu bauen – und das scheint mir nicht sehr realistisch gedacht zu sein. Sie würden dann fast jeden Tag einmal anlegen müssen, um Brennstoff an Bord zu nehmen, und das würde jede Reise ganz beträchtlich verzögern, selbst wenn die Leute, an deren Ufern das geschähe, sich freiwillig bereiterklärten, daß Sie ihre begrenzten Wälder abholzen. Des weiteren würden Ihnen Äxte, Kessel und andere Metallteile des Schiffes längst verschlissen sein, ehe Sie das Ende der Fahrt erlebten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man genügend Metall auf dem Schiff transportieren könnte, um Ersatzteile herzustellen, die auf jeden Fall dann und wann gebraucht werden. Nein – was wir brauchen, sind richtige Elektromotoren.

In dieser Gegend lebt ein Mann, den ich kurz nach meiner Versetzung hierher traf. Ich weiß nicht, wo er steckt, aber er müßte in der Nähe sein. Ich werde versuchen, ihn aufzuspüren. Was elektrisches Zeug angeht, so vollbringt er wahre Wunderdinge. Er stammt aus dem späten zwanzigsten Jahrhundert, ist Elektroingenieur und weiß genau, wie man die Motoren, die Sie brauchen, konstruiert.«

»Immer langsam mit den jungen Pferden«, warf Sam ein. »Woher sollten wir diese ungeheure Menge an Elektrizität nehmen, die man dafür brauchte? Liefe das nicht darauf hinaus, daß wir so etwas wie einen transportablen Niagarafall erfinden müßten?«

O’Brien war ein untersetzter, aber agiler junger Mann mit struppigem, beinahe orangefarbenem Haar und einem Gesicht, das beinahe blasiert wirkte. Sein verschmitztes Lächeln war beinahe charmant. »Das können Sie an jeder Stelle des Flusses gratis kriegen«, meinte er.

Er deutete auf die pilzförmige Oberfläche des nächstliegenden Gralsteins. »Diese Steine geben dreimal am Tag eine ungeheure elektrische Ladung ab. Was sollte uns daran hindern, sie anzuzapfen und zu speichern, um die Schiffsmotoren anzutreiben?«

Sam starrte ihn eine Sekunde lang an und stieß dann hervor: »Ich will tot umfallen! Was bin ich doch für ein Idiot! Da liegt das Zeug genau vor meiner Nase und ich sehe es nicht. Genau – das ist die Lösung!«

Er kniff plötzlich die Augen zusammen und runzelte die Stirn. »Aber wie zum Teufel könnte man eine solche Energiemenge speichern? Ich habe zwar nicht viel Ahnung auf diesem Gebiet, aber ich vermute doch, daß dazu eine Batterie nötig ist, die so groß ist wie der Eiffelturm.«

O’Brien schüttelte den Kopf. »Das habe ich bisher auch angenommen, aber dieser Bursche, von dem ich eben sprach – er ist ein Mulatte; zur einen Hälfte Holländer, zur anderen Zulu –, sagte, er brauchte nur das richtige Material, dann könne er einen Speicher bauen, der nicht größer sei als ein Würfel von zehn Kubikmetern. Dieser Würfel könne zehn Megakilowatt enthalten und sei in der Lage, in einer Sekunde ebenso ein Zehntel Volt abzugeben wie auch alles auf einmal; ganz nach Belieben. Er heißt übrigens Lobengula van Boom. Falls wir das Bauxit finden, könnten wir daraus Aluminiumdrähte machen, die als Wicklungen für Elektromotoren dienen könnten. Aluminium ist zwar nicht so effizient wie Kupfer, aber da wir nun mal kein Kupfer haben, müssen wir uns eben damit begnügen. Es wird auch so gehen.«

Sam fühlte, wie seine Frustrationen schwanden. Er grinste, schnippte mit den Fingern und machte sogar einen kleinen Luftsprung. »Machen Sie sich sofort auf die Suche nach diesem van Boom! Ich muß unbedingt mit ihm sprechen.«

Als er einen neuen Zug aus seiner Zigarre nahm, kam er sich vor, als würde er auf einem Wolkenteppich dahinschweben. Erneut sah er das große weiße Dampfschiff vor sich (ach nein, es würde ja von Elektromotoren angetrieben werden), wie es den Fluß hinauffuhr. Und Sam Clemens stand auf der Brücke und hatte eine Kapitänsmütze aus Drachenfischleder auf dem Kopf. Sam Clemens würde der Kapitän dieses herrlichen, einmaligen Schiffes sein, das sich anschickte, eine Millionen Kilometer lange Reise anzutreten. Nie hatte es ein solches Schiff gegeben; ebenso wenig wie einen solchen Fluß, und niemals eine vergleichbare Reise! Pfeifensignale ertönten, Glocken erklangen. Die Mannschaft bestand aus den kompetentesten Köpfen aller Zeitperioden, vom ehemaligen Mammutjäger Joe, der fast eine Million Jahre vor Christi das Licht der Welt erblickt hatte, bis zum feingliedrigen Spitzenwissenschaftler des späten zwanzigsten Jahrhunderts!

Es war von Richthofen, der ihn schließlich wieder in die Realität zurückholte.

»Ich kann es kaum noch erwarten, das Eisen auszugraben. Aber was ist mit Joe? Bist du schon zu einer Entscheidung gelangt?«

Seufzend erwiderte Sam: »Ich kann mich einfach nicht entschließen. Ich bin so angespannt wie ein Artist, der zum ersten Mal über ein Seil balanciert. Nur ein falscher Schritt – und alles ist aus! Okay, okay, Joe soll ruhig gehen. Ich kann mir die Chance einfach nicht entgehen lassen. Aber ohne ihn werde ich so hilflos sein wie ein neugeborenes Kind – oder ein Bankier am Schwarzen Freitag. Ich gebe Blutaxt und Joe Bescheid, dann kannst du damit anfangen, deine Mannschaft zusammenzustellen. Wir sollten es mit einer Zeremonie einleiten. Jeder trinkt einen Schluck, und ich werde dann den ersten Spatenstich tun.«

Ein paar Minuten später, als Sams Magen vom Bourbon erwärmt war, er sich eine Zigarre zwischen die Zähne klemmte und seine Ansprache beendet hatte, begann er zu graben. Die Bambusschaufel hatte zwar ein scharfes Blatt, aber der Grasboden war so zäh und dick, daß ihm nichts anders übrig blieb, als die Schaufel wie eine Machete einzusetzen. Schwitzend, fluchend und lauthals erklärend, daß sein ganzer Haß schon eh und je der körperlichen Arbeit gegolten hätte, machte Sam sich an die Arbeit und mähte das Gras ab. Als es ihm schließlich gelang, das Schaufelblatt in den Boden zu treiben, mußte er feststellen, daß es unmöglich war, sie mit Erde gefüllt wieder hochzuheben. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als die Graswurzeln, die den Erdhaufen noch mit dem Boden verbanden, durchzuhacken.

»Beim Großen Hornlöffel!« fluchte Sam und warf die Schaufel zu Boden. »Laßt diese Arbeit jemanden machen, der dazu die richtigen Muskeln hat. Ich bin nun mal ein geistiger Arbeiter!«

Die Menge brach in brüllendes Gelächter aus, dann machte sie sich mit Bambusmessern und Feuersteinäxten selbst an die Arbeit. »Wenn das Eisen auch nur zehn Fuß unter der Erdoberfläche liegt«, ließ Sam verlauten, »brauchen wir geschlagene zehn Jahre, um daran zu kommen.« Und zu Joe gewandt: »Du solltest soviel Feuerstein mitbringen, wie du kriegen kannst, Joe, sonst sehe ich schwarz.«

»Ich muff alfo doch mitfahren?« fragte Joe. »Ich werde dich vermiffen, Fäm.«

»Du mußt deinen Job tun, wie all die anderen Männer auch«, erwiderte Sam. »Aber du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.«

 

Auf dem Zeitstrom
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